Voraussetzungen

Bevor man sich damit auseinandersetzt, wie ein computerbasiertes Wahlsystem (CWS) für die Bundesrepublik Deutschland konkret realisert werden könnte, muss überprüft werden, welche Faktoren dafür sprechen, dass ein CWS mit ernstzunehmender Wahrscheinlichkeit in Deutschland stattfinden wird, um Sinn und Nutzen eines solchen Systems definieren zu können. Diese Faktoren können sowohl finanzieller als auch politischer Natur sein. So ist mit zunehmender Verbreitung des Internet geradezu ein Diskussions-Boom im Bereich der Politischen Wissenschaft in Bezug auf die Nutzungsmöglichkeiten der neuen elektronischen Kommunikationsmechanismen entstanden. Beispielsweise wird in [Zittel_1997] festgestellt:

Moderne Kritiker der Repräsentativverfassung haben die großen Fortschritte in der Kommunikationstechnik ... sehr früh als Chance einer neuerlichen Transformation der Demokratie begriffen. Dabei sieht eine Gruppe von Autoren in den sich rasch ausweitenden Computer- und Telephonnetzen die Bedingung für einen neuerlichen Strukturwandel von Öffentlichkeit gegeben. Von einer Demokratisierung ist in diesem Zusammenhang ebenso die Rede wie von einer Revitalisierung gesellschaflicher Gruppen und Vereinigungen. Andere sehen die demokratietheoretische Bedeutung neuer Medien in einer durch sie möglichen Veränderung des Entscheidungsmodus. Telekommunikation verringere die im Rahmen von Referenden anfallenden Transaktionskosten, was diesem Entscheidungsmodus eine höhere Praktikabilität verleihe. Eine dritte Gruppe sieht die Chance einer Reform der Repräsentativverfassung durch das Internet, weil es die Transparenz des parlamentarischen Prozesses sowie die unmittelbare Anbindung der Abgeordneten an die Interessen der Bürger stärke.

Vorteile der elektronischen Kommunikation

Die Diskussion über gesellschaftliche Einsatzmöglichkeiten der elektronischen Kommunikationsmedien ist bereits voll im Gange und teilweise über den Zustand der Diskussion hinaus in die Anwendung übergegangen. Dies lässt sich an Beispielen belegen, in denen politische Organisationen ihre Präsenz im Internet verstärken oder sogar direkte Dienstleistungen des Staates über das Internet verfügbar werden, beispielsweise:

Natürlich stellen diese Beispiele nur einen kleinen Teil der bereits existierenden Angebote und dementsprechend auch nur einen Teil der denkbaren Nutzungsmöglichkeiten dar. Historisch betrachtet lässt sich feststellen, dass die gesellschaftliche Entwicklung der Anwendung technischer Neuerungen der in der Privatwirtschaft hinterherhinkt. Die Wettbewerbsvorteile, die für die wirtschaftliche Anwendung den Ausschlag geben - hier seinen Faktoren wie Effizienssteigerung, Kostenreduzierung, Flexibilität und Kundenorientierung genannt -, lassen sich jedoch auch für staatliche oder private Organisationen nutzen. So ist eine Präsentation im Internet mit verhältnismäßig geringem finanziellen Aufwand verbunden, und die Art der Darstellung kann unabhängig erfolgen.

Auch für den einzelnen Bürger gewinnen die Vorteile der elektronischen Kommunikation immer mehr an Bedeutung. So hat ein Mensch mit Computer und Internetzugang sehr wohl Vorteile, wenn es um den Zugang zu Informationen geht. Beispielsweise ist die klassische Kommunikation über den Postweg um ein Vielfaches teurer als der Weg über Electronic Mail. Gleiches gilt für die Beschaffung von wissenschaftlichen Arbeiten, zumal viele Arbeiten auf dem klassischen Wege gar nicht bzw. nicht international publiziert werden, sondern lediglich über das Internet verfügbar sind. Konkrete demokratische Projekte im Internet, wie sie am Beispiel der USA (“Beispiele computerbasierter Demokratieinstrumente“) von uns vorgestellt werden, stellen neue Formen der Demokratie mit stärkeren Partizipationsmöglichkeiten für den einzelnen Bürger dar, die momentan den Anwendern des Internet vorbehalten sind.

Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass die Möglichkeiten, schnell an aktuelle Informationen zu gelangen, immer mehr in den Bereich der elektronischen Kommunikation verlagert werden. Als Folge ist langfristig erkennbar, dass ein Bürger ohne Internetzugang zu einem „Bürger zweiter Klasse“ wird, da er an vielen gesellschaftlichen Vorgängen nicht mehr in ausreichendem Maße teilnehmen kann.

Aufgrund dieser Entwicklungen sollte für den deutschen Staat aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Prinzipien die Verpflichtung entstehen, jedem Bürger einen Zugang zu diesen neuen Medien zu ermöglichen. (Dies lässt sich aus Artikel 5 des Grundgesetzes „Freiheit der Meinungsäußerung“ Absatz 1 ableiten: Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.)

Für die Einrichtung eines computerbasierten Wahlsystems in der Bundesrepublik Deutschland, welches auf Basis verfügbarer technischer Infrastruktur konzipiert werden soll, stünde bei Verwendung des Internet bereits heutzutage eine relativ starke Benutzergruppe - in Bezug auf deren technisches Verständnis für die Anwendung eines solchen Systems - zur Verfügung. (Mitte 1998 ging man von etwa 6.000.000 Internet-Nutzern aus. Immerhin sind dies bereits ca. 10% der 60.452.009 Wahlberechtigten zur Bundestagswahl 1994.) Selbstverständlich muß, auf Basis des Grundgesetzes, jedem Wahlberechtigten die Möglichkeit des Zugangs zum Wahlsystem gegeben sein. Dieser Anspruch soll jedoch nicht soweit gehen, daß jeder Bürger einen eigenen „staatlich verordneten“ Internet-Zugang gestellt bekommt. Das ist auch gar nicht notwendig.

Der Übergang zum CWS

Durch den Einsatz eines computerbasierten Wahlsystems auf Basis der elektronischen Kommunikationsmechanismen ergeben sich für den Staat, wie für die Privatwirtschaft, direkte finanzielle Vorteile und neue organisatorische Möglichkeiten. Beispiele hierfür wären:

In jedem Falle wird für einen gewissen Zeitraum eine Übergangslösung zu einem reinen Einsatz des CWS stattfinden müssen. So könnte das CWS als Übergang in einer Projektphase in ausgewählten Wahlkreisen alternativ zum klassischen Wahlsystem eingeführt werden. Eine solche Projektphase ist zumindest aufgrund der vier folgenden Gründe dringend notwendig,

  1. um den als erstes erforderlichen finanziellen Aufwand für die Installation der notwendigen Infrastruktur zeitlich zu strecken,
  2. um den potenziellen Schaden für den Fall zu minimieren, dass ein solches Wahlsystem nicht in ausreichendem Maße Akzeptanz bei den Wählern findet,
  3. um das Risiko technischer Startprobleme kalkulierbar zu halten und
  4. um den Bürgern, die Probleme im Umgang mit der verwendeten Technik haben, eine Phase der Eingewöhnung zu bieten.

Unter der Prämisse, dass die Bedienung eines CWS extrem einfach gehalten sein sollte, d.h. kein technisches Fachwissen notwendig sein wird und die Benutzerführung möglichst intuitiv erfolgen kann, wird deutlich, dass jeder, der bereits Umgang mit Computern hatte bzw. hat, auch mit einem CWS umgehen kann. Man sollte sich verdeutlichen, dass die Bedienung des CWS vom Prinzip her nicht komplizierter zu sein braucht als die Bedienung eines Geldautomaten. Natürlich ist es letztendlich immer eine Frage der konkreten Umsetzung durch die an der Entwicklung beteiligten Menschen.

Wenn man berücksichtigt, in welch vielfältigen Bereichen man bereits heutzutage die Möglichkeit hat, den Umgang mit Computern zu erlernen, ist zu erwarten, dass insbesondere in den Schichten der Wähler jüngeren und mittleren Alters die Akzeptanz von Anfang an recht hoch sein wird. Zu diesen Bereichen zählen beispielsweise:

Das CWS als ausschließliches Wahlinstrument

Um die Potenzen für die demokratische Gemeinschaft, die sich durch ein computerbasiertes Wahlsystem ergeben würden, voll nutzen zu können, muss bedacht werden, dass sich diese Potenzen durch den kleinsten gemeinsamen Nenner aller an der Wahl beteiligten Faktoren bilden. Dies bedeutet, dass sich prinzipielle strukturelle Änderungen solange nicht verwirklichen lassen, wie das klassische Wahlverfahren alternativ zur computergestützten Wahl stattfinden muss. Daher lassen sich die vollen Möglichkeiten eines CWS erst dann beurteilen, wenn der Computer ein essenzieller Bestandteil des Wahlsystems ist und die Beschränkungen der bisherigen Wahlverfahren dadurch eliminiert sind. (Unter „essenziellem Bestandteil“ ist hierbei zu verstehen, dass eine Wahl ohne Computer nicht mehr möglich ist und somit die Konzeption von Struktur, Verfahren und Organisation des CWS unter voller Nutzung der Möglichkeiten elektronischer Kommunikation Anwendung finden kann.)

Für die Einführung eines Wahlsystems, das den Computer in dieser Art konsequent nutzt, sind jedoch zuerst die folgenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu klären:

  1. Jeder Wähler muss Zugang zu einem Computer des CWS haben.
  2. Die Anzahl der Wähler, die nicht mit einem CWS umgehen können, muss so gering sein, dass auf diese besonders eingegangen werden kann. (Auch in dem bestehenden Wahlsystem wird auf diesen Umstand eingegangen. Beispielsweise wird im Bundeswahlgesetz [BWG_1998] §33 - „Wahrung des Wahlgeheimnisses“ Absatz 2 folgende Regelung getroffen: „Ein Wähler, der des Lesens unkundig oder durch körperliche Gebrechen behindert ist, den Stimmzettel zu kennzeichnen, in den Wahlumschlag zu legen, diesen dem Wahlvorsteher zu übergeben oder selbst in die Wahlurne zu legen, kann sich der Hilfe einer anderen Person bedienen.“)

Die staatlich-organisatorischen Maßnahmen zur Realisierung des ersten Punktes werden - soweit notwendig - im Punkt „Technische Grundlagen und Verfahren computerbasierter Wahlsysteme“ behandelt.

Um eine Prognose über die Größe der Gruppe von Menschen treffen zu können, die nach der Übergangszeit vom klassischen Wahlsystem zum reinen CWS nicht in ausreichendem Maße mit einem Computer umgehen können werden, ist es interessant zu betrachten, in welchen Bereichen man bereits heutzutage auf den Umgang mit Computern angewiesen ist. Hier einige Bereiche als Beispiel:

Wenn man die Bereiche, in denen Bürger den Umgang mit Computern erlernen können, und die Bereiche, in denen Bürger den Umgang mit Computern beherrschen müssen, in Zusammenhang mit der technologischen Entwicklung und der Tatsache betrachtet, dass es eine Übergangszeit vom klassischen zu einem computerbasierten Wahlsystem geben muss, so scheint es sehr wahrscheinlich, dass die Anzahl der Menschen, die nicht mit einem CWS umgehen können werden, höchstwahrscheinlich gering genug sein wird, um für diese Personengruppen individuell zugeschnittene Problemlösungen anwenden zu können.

Es stellt sich also nicht die Frage, ob ein CWS in der Bundesrepublik Deutschland eingeführt werden kann, sondern wie es konkret aussehen sollte.

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